EYE2021 - Als Frau in der Musikbranche: ein Gespräch mit zwei starken Stimmen
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Im Vorfeld des Europäischen Jugendevents EYE2021 haben wir mit zwei Frauen gesprochen, die in der Musikbranche tätig sind. Es geht um ein wichtiges Thema: die Gleichstellung der Geschlechter. Francine Gorman und Uèle Lamore engagieren sich seit langer Zeit auf diesem Gebiet. Uèle berichtet ausführlich über ihr Leben als Musikerin, Dirigentin und Komponistin in Paris – und Francine Gorman, die in London als Projektmanagerin für Keychange (einem globalen Netzwerk zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter in der Musikindustrie) arbeitet. Beide teilen ihre Erfahrungen und Hoffnungen für eine gerechtere Gesellschaft..
Warum ist Gleichberechtigung so wichtig?
Francine Gorman: Es geht um das grundlegende Menschenrecht, dass alle die gleichen Möglichkeiten haben, Entscheidungen in die eigenen Hände zu nehmen und ihr Leben so zu gestalten, wie sie es möchten: beruflich, privat, finanziell etc. Aktuell besteht dieses Recht nicht. Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir das Bewusstsein für diese Tatsache schärfen und positive, fortschrittliche Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass Menschen nicht aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Hautfarbe eingeschränkt werden.
Uèle Lamore: Es ist doch ein ganz fundamentales Prinzip, Gründe dagegen gibt es schlicht nicht. Es muss eine Selbstverständlichkeit sein, etwas, über das man nicht einmal diskutieren sollte. Ich habe das Gefühl, dass wir in gewisser Hinsicht auf dem richtigen Weg sind, zumindest für die Menschen meiner Generation (Uèle ist 27 – Anm. d. Red.). Ich bin mir bewusst, dass ich als jemand, der in Paris lebt, privilegiert bin. Aber: Wir müssen darüber als globales Problem nachdenken.
FG: Da kann ich nur zustimmen. Wenn wir uns die verfügbaren Statistiken anschauen, ist das weltweite Lohngefälle zwischen Männern und Frauen erschreckend. Es wird etwa 130 Jahre dauern, bis wir Lohngleichheit erreichen. Mit Keychange arbeiten wir konkret an der Situation in der Musikindustrie – auch hier sind die Zahlen sind erschütternd. So liegt beispielsweise die Zahl der auf der Bühne aufgeführten Kompositionen von Frauen bei weit weniger als 10 % pro Jahr. Allein diese Tatsache verdeutlicht, dass es auf allen Ebenen der Musikindustrie eine enorme Ungleichheit gibt. Auch wenn es sehr ermutigend sein kann, Teil von Projekten zu sein, die sich gegen diesen Fakt engagieren, dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben. Wir müssen diese Diskussion so laut und so sichtbar wie möglich führen, um nachhaltige Veränderungen zu erreichen.
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Wann wurdet ihr euch zum ersten Mal der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern bewusst?
FG: Ich war noch sehr jung. Ich wuchs mit zwei Brüdern auf. Sie gingen am Samstagmorgen zu einem Fußballspiel, und ich wurde gegen meinen Willen zum Ballettunterricht geschickt! Dabei wollte ich mit den Jungs zum Fußball. Du merkst, dass dein Leben vorbestimmt ist: durch dein Geschlecht.
UL: Ich habe eine ähnliche Erfahrung gemacht. Ich erinnere mich, dass ich als Kind unbedingt Eishockey spielen wollte. Ich war besessen davon, ich hatte sogar Trikots, konnte aber in ganz Frankreich keinen Verein finden. Vor kurzem habe ich darüber nachgedacht, und ich konnte immer noch keinen Verein für Frauen finden! Es gibt so viele Vereine für Männer. Manche Dinge ändern sich nicht, das ist doch absurd.
FG: Selbst die Wahl des Studienfachs kann geschlechterspezifisch sein. Einer der gefährlichsten Bereiche im Zusammenhang mit diesem Thema sind die Gespräche, die wir über ungleiche Bezahlung führen. Natürlich könnten wir als Frauen denken, dass wir im Laufe unserer Karriere stetig und erfolgreich vorankommen. Doch dann wird uns plötzlich bewusst, dass wir nur die Hälfte des Geldes verdienen. Hier wird es wirklich offensichtlich, dass es diese versteckte Ungleichheit gibt, die wir aufdecken müssen.
Es gibt in der Musikindustrie nur wenige weibliche Dirigent*innen wie Uèle.
UL: Ja, ich werde ein bisschen wie ein Einhorn behandelt. Natürlich fühle ich mich nicht so! Die Frage ist doch: Warum wollen Mädchen nicht Tontechnik oder Produktion studieren oder auf die Musikhochschule gehen? Vielleicht, weil man ihnen sagt, dass sie weniger Chancen haben als die Jungs. Eltern und Lehrer*innen haben eine große Verantwortung bei dieser Ausbildung. Es ist wichtig zu sagen, dass es diese Möglichkeit natürlich dennoch gibt, auch wenn sie vielleicht nicht auf der Hand liegt.
FG: Absolut, Vorbilder sind sehr wichtig. Als wir Keychange ins Leben gerufen haben, gab es in den sozialen Medien eine Diskussion über das Line-up der Festivals in Reading und Leeds. Jemand hat alle Bands mit nicht mindestens einem weiblichen Mitglied per Photoshop entfernt. So blieben von 80 gebuchten Acts nur sechs übrig. Es war eine Visualisierung des Mangels an Vorbildern, den die jungen Frauen, die diese Festivals besuchten, auf der Bühne sahen. Das Gleiche gilt für die gesamte Branche: Wenn es keine Frauen als CEOs in den Unternehmen gibt, schrumpfen die Aussichten auf eine Karriere. Wir versuchen, Frauen zu ermutigen und ihnen Mut zu machen, diesen Zustand zu hinterfragen und zu verändern.
UL: Ehrlich gesagt habe ich nie wirklich schlechte Erfahrungen gemach. Aber das hat auch damit zu tun, dass ich mich in einer Nische bewege. Beim London Contemporary Orchestra zum Beispiel arbeite ich mit vielen Frauen in Führungspositionen zusammen. Ich weiß, dass das im Rest der Musikindustrie nicht so ist. Wir müssen uns darum bemühen, dass mehr Frauen bei Stellenangeboten berücksichtigt werden. Positive Diskriminierung kann zu Fortschritten führen und die Situation Schritt für Schritt verändern – für mehr Vielfalt.
FG: Ja. Wir sind darauf getrimmt, schlechte Erfahrungen zu verdrängen und zu vergessen. In meiner Zeit als Journalistin wurde ich in der Musik-Branche bei Terminen oft als Praktikantin behandelt – obwohl ich schlicht und einfach als Journo meinen Job machen wollte und sollte. Ich habe mich immer bemüht, mutig zu sein, meinen Standpunkt zu vertreten und meine Arbeit zu machen. Das hängt auch mit Keychange zusammen. Das Herzstück des Projekts ist ein Pledge-System. Wir stehen mit den unterschiedlichsten Musikorganisationen in Kontakt – von Orchestern und Ensembles bis hin zu Konzerthäusern, Verlagen oder Booking-Agenturen. Und wir laden sie ein, ihre Dienstpläne, ihr Personal, das Gleichgewicht der Geschlechter unter ihren Praktikant*innen etc. auszuwerten und zu zu überprüfen. So bringen wir sie dazu, ihre Zusammensetzung unter dem Gesichtspunkt der Gleichberechtigung zu hinterfragen. Wenn in einem Orchester ein Platz für eine Posaune frei ist und sich fünf Jungs um diesen Platz bewerben, wo sind dann die Mädchen? Welche Möglichkeiten gibt es dann? Oftmals sind dabei gar keine großen Schritte erforderlich. Es sind viele kleine Veränderungen, die den Wandel ermöglichen.
Glaubt ihr, dass sich die Situation zum Positiven hin entwickelt? Habt ihr Hoffnung für die Zukunft?
FG: Definitiv. Ich arbeite seit 2018 an diesem Projekt und erlebe schon jetzt ganz andere Gespräche, die viel ermutigender sind. Ich sehe, dass viel mehr Menschen selbst die Verantwortung für dauerhafte Veränderungen übernehmen. Nur so werden wir jemals einen dauerhaften Wandel erleben. Ich bin hoffnungsvoll!
UL: Und ich hoffe, dass Misogynie und die Frage der Gleichstellung der Geschlechter der Vergangenheit angehören werden. Die jüngere Generation von Frauen ist sich dessen sehr bewusst und hat keine Geduld mehr dafür. Ich merke das sogar bei Leuten in meinem Alter, die 25-30 sind. Wir beginnen zu verstehen, wie man damit umzugehen hat.
Gibt es Persönlichkeiten aus eurer Kindheit oder von heute, die euch in der Frage der Gleichstellung der Geschlechter inspiriert haben?
UL: Eine Künstlerin, die mir sofort einfällt, ist St. Vincent – Annie Clark. Sie hat viel für das Image von Frauen in der Rockmusik getan. Sie ist ein großartiges Beispiel für eine fantastische Gitarristin, wie man sie leider nur sehr selten findet. Auch im Bereich der Filmmusik gibt es viele Komponistinnen, die große Auszeichnungen erhalten haben: Mica Levi zum Beispiel, die einen Oscar für „Jackie“ gewonnen hat. Das hilft.
FG: Nina Simone und Dolly Parton waren über ihre gesamte Karriere hinweg sehr starke, unverwüstliche und herausfordernde Persönlichkeiten. Sie sind zuversichtlich, die Art von Musik zu machen, die sie lieben und machen wollen, und sie haben zahllose Generationen inspiriert – professionelle, kreative, langlebige Talente.
Was sind eure Botschaften an die europäische Jugend?
FG: Seid mutig und selbstbewusst in Bezug auf euer Talent und euch selbst. Habt keine Angst, Gelegenheiten wahrzunehmen. Jetzt ist wahrscheinlich die beste Zeit, um als Künstlerin oder Musikschaffende tätig zu sein, denn es gibt eine Menge Leute, die speziell nach diesem Talent suchen. Ich möchte nicht, dass diese Künstlerinnen und Musikerinnen das Gefühl haben, dass sie nur aufgrund ihres Geschlechts für die Besetzung ausgewählt werden, aber jetzt ist die Zeit, in der sie die Möglichkeit haben, auf die Bühne zu gehen und zu beweisen, dass sie zu Recht in diese Position gehören. Also packt es an, tut es!
UL: Es gibt ja immer diese Frage: Wenn du in die Vergangenheit reisen könntest, wohin würdest du gehen? Als Frau, nirgendwohin! Mir geht es gut, hier und jetzt. Wie du gesagt hast, einfach mal etwas wagen. Das ist etwas, das die Leute wirklich hören und glauben müssen. Und es ist nicht so, dass es nicht existiert, nur weil man es nicht sieht. Probiert es einfach aus, und was auch immer passiert, ihr werdet etwas lernen.