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Female Trouble - Underground-Musik gibt dem Aktivismus ein neues Gesicht

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Female Trouble - Underground-Musik gibt dem Aktivismus ein neues Gesicht

Kürzlich titelte ein US-amerikanisches Medium: „Fans cast Jeremy Renner as Zelensky in fantasy Ukraine invasion film“.  Fans von was genau? Dem Krieg? Die Situation in der Ukraine verändert sich täglich – aktuell leider nicht zum Besseren. Und in den sozialen Medien wird vor allem interessiert zugeschaut. Keine neue kulturelle Entwicklung: Krieg, Missstände oder Missbrauch: Wir schauen zu.

Das gilt auch für den Feminismus. Statt sich mit der so wichtigen politischen und gesellschaftlichen Agenda auseinanderzusetzen, ist der Begriff immer mehr ein Buzzword geworden, mit dem sich Kosmetika bestens verkaufen lassen. Frauen und nicht-binären Menschen, die in ihrem Alltag nach wie vor mit Misshandlungen zu kämpfen haben, hilft das nicht. Und doch haben Unternehmen – Marken – einen Weg gefunden, aus der Wertschätzung weiblicher Ermächtigung Kapital zu schlagen, um ihre eigenen Produkte zu pushen. Mit „Girl Power“ als Aufdruck auf einem T-Shirt oder „My Body, My Choice“ als Hashtag.

Die gute Nachricht: Feminismus wird heute mehr denn je auf breiter Ebene anerkannt und wahrgenommen. Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist kein exklusiver Club mehr – europäischen Künstler*innen ist es ein großes Anliegen, das Ziel der Gleichberechtigung  wirklich zu erreichen. In diesem Beitrag werfen wir einen Blick auf die Underground-Musikerinnen, die an der Spitze der stärksten feministischen Bewegung stehen, die Europa bislang erlebt hat.

Rumänien – ein ganz eigener Space

von Eliza Nita

Alexandra Stans Song „Mr. Saxobeat“ ist in den letzten zehn Jahren zu einer Art musikalischer Ikone geworden. Im Jahr 2013 wurde Stan von ihrem Manager und damaligen Partner Marcel Prodan körperlich und seelisch misshandelt. Die rumänische Öffentlichkeit war erbarmungslos: „Nun, sie muss etwas getan haben, um ihn zu verärgern“; „Es liegt daran, dass sie immer diese knappen Kleider trägt“. Das Fazit der rumänischen Öffentlichkeit lautete: Sie hat es verdient.

Ende 2021 trendete „Mr. Saxobeat“ auf TikTok und wurde von der Generation Z schließlich „certified bop“ genannt. Zur gleichen Zeit machte  iUMOR, ein Teilnehmer einer beliebten rumänischen Comedy-TV-Show, einen Witz über Stans Missbrauch. Delia, eine weitere bekannte rumänische Sängerin und die einzige Frau in der Jury, wies ihn für seine unangebrachten Witze in die Schranken – darüber mache man keine Witze. Der Juror zu ihrer Linken blieb still.

Cheloo ist ein bekannter Rapper; er trug in einem Musikvideo ein „White & Proud“-T-Shirt und sagte damals, als er und Delia Juroren bei X-Factor waren, zu einem schwulen Kandidaten, dass er alles verachtet, wofür dieser stehe, und dass dieses Land (Rumänien) ihn nach Hause schicken (ihn rauswählen) werde. Erstaunlicherweise arbeiten Delia und Cheloo immer noch in der gleichen Sendung zusammen.

Sofia Zadar schwelgt geradezu in Verletzlichkeit. Das zeigt sich auf xierer ersten EP „Lyra“, in der xie uns durch die Räume xieres Unterbewusstseins führt und xiere Widerstandsfähigkeit und Sensibilität in ihr Schaffen einfließen lässt. Xie ist Aktivisten und spielt regelmäßig am Theater – in Stücken, die sich mit den institutionellen Veränderungen befassen, für die so viele kämpfen. Eine weitere wichtige Aktivistin ist Oana Maria Zaharia, die eine Hälfte des Elektropop-Duos Poetrip. Oana ist vorbehaltlos sex-positiv und setzt sich mutig für die Rechte der Frauen auf sexuelle Autonomie ein, ohne dabei jemals die Klischees der patriarchalisch-geprägten Sexualität in ihren Auftritten zu bedienen. Als Schauspielerin und Mitglied des Kollektivs Vagenta ist sie in ihrer gesamten Kunst darauf fokussiert, die Sprache ihrer Unterdrücker zurückzuerobern.

Der Text von Teodora RetegansThe Ground“ (bekannt durch Zimbru) ist ein weiterer Beleg für den Stimmungswechsel – auch in der Musik. In der Ballade, so skurril sie auch ist, betrauert sie Verlust der Verbindung der Menschheit mit der Erde – ein Art Eröffnungssalve für Musik, in der das Umweltbewusstsein im Mittelpunkt steht. Corina Sucarov (+SHE) hat ihren Song „Mama“ in der gleichen existenziellen Trauer verwurzelt. Sucarov nahm einst an einer Mode-Fernsehshow teil, eine Erfahrung, die Songs wie „FAKE LIPS“ und „Social Media, With Love“ hervorgebracht hat. Sexismus wird angeprangert, die harte Wahrheit darüber, wie man sich als Frau in den Medien bewegt, die nicht dem Ideal der Branche entspricht, thematisiert.

Die Nuller-Jahre waren von Apathie geprägt – auch musikalisch. Heute braucht es Interesse und Engagement. Wann immer Sofia, Oana, Teodora und Corina auftreten, schaffen sie einen geschützten Raum, in dem die Menschen ohne Vorurteile ganz bei sich sein können. Das kommt gerade bei jüngeren Menschen immer mehr an: Wir nehmen keine Gefangennen.

Wir sehen Frauen und nicht-binäre Menschen, die ihren eigenen persönlichen Stil und ihre Erfahrungen den von Männern diktierten Normen vorziehen. Sie sind Meisterinnen ihres eigenen Designs.

Griechenland – Geteilt zwischen Kulturliberalismus und Liberalkonservatismus

von Maro Angelopoulou

Das Patriarchat beruht auf durch nichts begründbaren Erzähungen. Nichts rechtfertigt die Allgemeingültigkeit eines solchen Systems. Und obwohl wir einen allgemeinen Wandel zum Positiven feststellen, bleibt noch viel zu tun, um Gleichberechtigung wirklich auf allen Ebenen zu erreichen.

Derweil sprechen die Daten des griechischen Justizministeriums eine klare Sprache. Die Zahlen in Bezug auf strafrechtliche Verfolgungen und Verurteilungen wegen häuslicher Gewalt und geschlechtsspezifischen Missbrauchs sind nach wie vor niedrig. Auch wenn sexuelle Belästigung und Missbrauch mittlerweile globale Themen sind: In Griechenland geschieht zu wenig, das Thema wir simmer noch unter den Teppich gekehrt. Das galt zumindest bis zum Jahr 2021. Dann kam #MeToo. Die Bewegung brachte auch im konservativen Griechenland einiges in Gang. Das Schweigen schien gebrochen zu sein, auch im Kunstsektor sprachen Menschen offen über ihre eigenen ähnlichen Erfahrungen. Seitdem werden mehr Delikte zur Anzeige gebracht – vor allem von Frauen.

Die finanzielle, politische und soziale Krise Griechenlands hat die Solidaritäts- und Sozialbewegungen des Landes beflügelt. Künstler*innen aus der Pop-, Folk- und Rap-Szene setzen sich mehr und mehr in ihrer Musik mit komplexen Themen wie Herkunft, Geschlecht oder Menschenrechten auseinander. Egal, ob Musiker*innen in erster Linie über Politik schreiben oder einen kulturellen Kommentar in ein traditionelles Thema einstreuten: Musik ist ein großartiger Anstoß für Gespräche.  

Die Kulturlandschaft hat eine neue Aufgeschlossenheit für Künstler*innen ermöglicht, die sich entweder nicht mit Geschlechtertrennungen identifizieren oder Feminismus durch ihre Musik zum Ausdruck bringen wollen. Capétte ist ein Künstler aus Thessaloniki, der mit Fusion/Dark/Queer-Musik mit griechischen Texten experimentiert. Seine Lieder befassen sich zunehmend mit der menschlichen Natur und nehmen den Kampf der Menschen textlich in einen politischen oder soziologischen Kontext in den Blick.

Der Track „O Yios me to Stemma“ („Der Sohn mit der Krone“) widmet sich den Opfern von Polizeigewalt und der Korruption im Land. Letztere ist seit Beginn der Pandemie wieder verstärkt zu spüren. Das Stück ist ein seltenes Beispiel dafür, dass auch Künstler*innen aus den Bereichen Pop und Elektronik sich diesen Thematiken annehmen. Bislang wurde über die Polizeigewalt vor allem gerappt.

Someone Who Isn’t Me haben sich in der lokalen Underground-Szene mit nachdenklich stimmenden Elektro-Pop zu Themen wie Gender, Sexualität und Identität etabliert. „Please woman of everything/Dont give a fuck for what they say” (Bitte, bitte, Frau von allem / Gib einen Scheiß darauf, was sie sagen) “(„Pinku“, 2019). Die aus Griechenland stammende und in London lebende Elektropop-Künstlerin VASSIŁINA beschäftigt sich mit dem menschlichen Körper und der Art und Weise, wie seine Grenzen verletzt werden können. „you always talk about my silhouette, you don’t even say my name” (du sprichst immer über meine Kontur, du sagst nicht einmal meinen Namen) („Sexyless“, 2021).

Die griechisch-dänische Popsängerin Danai Nielsen benutzt einen DX7-Synthesizer und heruntergepitchte Vocals, um eine männliche Alter-Ego-Persona oder ein futuristisches Mädchen zu kreieren, wie in ihrem jüngsten Track „Who Are They“ . Amalia & The Architects sind eine neue Band, die sich schon jetzt von der Folk-Pop-Szene abhebt, indem sie eher Fragen über Liebe und Identität stellt, als Statements abzugeben.

Wir erleben auch, dass immer mehr weibliche Kreative ihren Platz in der griechischen HipHop-Landschaft beanspruchen; vor allem in Thessaloniki ist eine ganze Szene entstanden. Fem-Rapperinnen wie Penny, Expe, Sci-Fi River und die albanisch-griechische Kisla schaffen Songs, in denen es darum geht, Frauen zu ermächtigen, ihren Körper, ihr Leben und ihre Arbeit selbst zu bestimmen, ohne auf die Erlaubnis von Männern zu warten.  Semeli vermischt auf faszinierende Weise Rebetiko, Rap und Jazz, um gegen Rassismus, Neofaschismus und verschiedene andere Aspekte zu sprechen. Und SAW, hat mit ihrem 2021 erschienenen Track ‘Ftou Xeleftheria’ das seit langem ernste Thema angesprochen, was es bedeutet, Künstler*in in Griechenland zu sein und einen zweiten Job haben zu müssen, um überleben zu können. Es wird davon ausgegangen, dass man ohne Gage auftritt, nur um „Aufmerksamkeit“ zu erlangen. In einer Zeit intensiver nationaler Debatten, in der wichtige soziale Themen die Nachrichten beherrschen, ist Musik, die es wagt, in diese tiefen Gewässer vorzudringen, wichtiger denn je.

Deutschland – Mädchen werden laut

von Dan Cole

Die Gender Gap in der Musikszene ist kein Geheimnis. In den letzten zehn Jahren wurden weniger als 20 % der Titel in den deutschen Charts von Frauen geschrieben oder performt. Außerhalb des Kommerziellen wehren sich die Frauen jedoch und verschaffen sich Gehör.

Im Herzen der deutschen Hauptstadt wurde von einer kleinen Gruppe von Musiker*innen, wie den Alt-Rockern 24/7 Diva Heaven und Riot Spears, eine neue Initiative namens GRRRL-NOISY ins Leben gerufen, um den Stimmen von FLINTA (Womxn, Lesbians, Intersex, Non-binary, Trans und Agender) Gehör zu verschaffen und ein Umfeld zu schaffen, in dem sie auftreten können.

GRRRL NOISY by Chux On Tour Photography
Photo by Chux On Tour Photography

„Uns fehlte ein safe space, wo wir uns austauschen und auftreten konnten“, erklärt Bonnie, Mitbegründerin von GRRRL-NOISY und Drummerin von ISOSCOPE. „Mit den monatlichen Jam-Sessions wollten wir einen sicheren Raum für FLINTA schaffen, um auf der Bühne zu experimentieren und Kontakte zu knüpfen. Die Veranstaltung wurde schnell zu einer Plattform und einer Community für FLINTA-Musiker*innen und Musikliebhaber*innen in der Berliner Musikszene.“

GRRRL-NOISY richtet sich in erster Linie an diejenigen, die sich für die Bereiche Alternative Rock, Grunge und Punk interessieren. Musikgenres, die in der Vergangenheit von männlichen Musikern dominiert wurden. Aber die unausgewogene Vielfalt in der Szene war nicht das einzige Ziel der Initiative.

„In der Musikszene muss man sich immer noch mit Sexismus und „Mansplaining“ auseinandersetzen, und man liest immer noch Begriffe wie „female fronted“, erläutert Bonnie die Probleme, mit denen sich FLINTA-Musiker*innen in der Musikszene immer noch auseinandersetzen müssen.

Die Veranstaltungen von GRRRL-NOISY finden seit einigen Jahren an verschiedenen Orten in der Stadt statt. Hier treffen sich FLINTA-Musiker*innen, jammen und sehen sich die Auftritte anderer Bands an. Außerdem gibt es eine große Gemeinschaft von Fachleuten aus der Branche, die den Mitgliedern die Möglichkeit gibt, sich zu vernetzen und weiterzuentwickeln.

GRRRRRL Noisy Chux On Tour Photography
Photo by Chux On Tour Photography

Das Kollektiv hat schon in ganz Deutschland Showcases veranstaltet, u.a. auf dem Reeperbahn Festival. 2021 wurden sie von der Initiative Tag der Clubkultur mit einem Sonderpreis für ihr besonderes Engagement in der Berliner Clubkultur ausgezeichnet.

Zusammen mit anderen Initiativen wie Pathwaves, DICE und musicBwomen , die Musikerinnen in den Underground-Szenen des Landes fördern und unterstützen, beginnen Frauen, eine führende Rolle bei der Gestaltung des kulturellen Schaffens in Deutschland zu übernehmen. Allein im letzten Jahr haben Künstlerinnen wie Sofia Portanet, Laura Lee and the Jettes und DENA im Rock- und Popbereich große Erfolge feiern können. Auch innerhalb der deutschen HipHop-Szene gibt es zahlreiche Erfolgsgeschichten (wie z. B. SXTN, Haiyti), die neue Maßstäbe für weibliche Emanzipation setzen.

Für die GRRRL-NOISY-Community geht die Arbeit weiter, denn sie wollen immer mehr Mitglieder zum Mitmachen und Experimentieren anregen. „Das Feedback zu unseren Veranstaltungen und Aktionen ist durchweg positiv und das spornt uns an, uns weiter zu engagieren und unser Netzwerk zu vergrößern“, sagt Bonnie über die Zukunftspläne des Teams. „Wir werden weiterhin unsere Jams organisieren und über Deutschland hinaus wachsen. Außerdem planen wir gerade ein GRRRL-NOISY-Festival für den Herbst 2022, das wird bestimmt toll!“ 

Um diejenigen zu unterstützen, die von der humanitären Krise in der Ukraine betroffen sind, hat das Team von GRRRL-NOISY eine neue Solidaritäts-Compilation zusammengestellt. Damit soll Geld für marginalisierte Gemeinschaften gesammelt werden, die durch den Krieg vertrieben wurden. Ihr könnt sie euch HIER anhören.

Vom Widerstand gegen Bigotterie und Chauvinismus bis hin zu Aufklärung über Sex und Body Positivity; vom Einsatz für Frauen, die Frauen unterstützen, bis hin zum Aufbau von Gemeinschaften, die marginalisierten Menschen helfen; vom Bewusstsein für den Klimawandel bis hin zum Kampf gegen politische Korruption und Polizeibrutalität – mit diesen Künstler*innen sollte man rechnen, wenn man über intersektionalen Feminismus spricht, und sie sollten dafür gewürdigt werden, dass sie den Weg dafür geebnet haben.

Genau wie sie müssen auch wir den Mut haben, unsere Stimme zu erheben und zusammenzustehen – nicht nur für uns selbst, sondern auch für die kommenden Generationen. Jetzt wird über unsere Zukunft auf der Erde entschieden. Wir müssen handeln, und wir müssen zusammenarbeiten.

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Weiblich, aktivistisch & Underground