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The Spanish Wave: Warum Bands aus Spanien in Lateinamerika so erfolgreich sind

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The Spanish Wave: Warum Bands aus Spanien in Lateinamerika so erfolgreich sind

800 Leute, die direkt vor dir stehen und jeden deiner Texte mitsingen, jedes Wort, und alle zusammen „oe oe oe“ anstimmen“ – das ist eine der schönsten Erinnerungen von Jorge Martí, Frontmann und Gitarrist von La Habitación Roja, an die Auftritte seiner Band in Lateinamerika. Aber wie kommt es, dass eine Indie-Band aus Spanien auf der anderen Seite des Atlantiks so viel Aufsehen erregt? Tatsächlich sind La Habitación Roja nicht die einzigen, denen solch eine Anteilnahme zuteil wird, das Phänomen geht bis in die 1980er-Jahre zurück. Wir haben mit einigen der Künstler*innen gesprochen, die diese Begeisterung für ihre Musik selbst miterlebt haben, und nach den Gründen gefragt.

Die Kinderband Parchís, Hombres G, From kids’ phenomenon Parchís to Hombres G, Miguel Bosé, Mecano oder Alaska – sie alle hatten bereits in den 80er-Jahren Erfolg in Lateinamerika. Wir könnten noch tiefer graben und bis in die 70er zurückgehen, würden dabei aber das Indie-Terrain verlassen: die Ranchera-Queen Rocío Durcal, den Popsänger und das Sex-Symbol Julio Iglesias oder den katalanischen Protestsänger Joan Manuel Serrat.

Während der Nullerjahre waren Namen wie Bunbury, die bereits erwähnten La Habitación Roja oder Dorian die Vorboten einer zweiten spanischen Indie-Welle. „Wir kamen ab Ende der Nullerjahre regelmäßig nach Mexiko, zu einem Zeitpunkt, als die Indie-Szene in unserer Heimat aufblühte“, erinnert sich Marc Gili, Frontman der New-Wave-Band Dorian. „Damals wagten nur wenige Bands den Schritt nach Lateinamerika, und wir waren eine der ersten. Das ist einer der Gründe, warum wir dort erfolgreich waren.

Vielleicht war wirklich dieser Pioniergeist einer der Gründe. Aber: Ohne das Internet muss es doch schwierig gewesen sein, Informationen zu verteilen und eine Beziehung zu den Fans aufzubauen? Hier kommen die Musikmagazine ins Spiel. „Indie war in Spanien zu dieser Zeit sehr angesagt, und einige Bands wurden in mexikanischen Mags vorgestellt, darunter auch Dorian“, fährt Gili fort. „Als wir ankamen, hat uns die Szene willkommen geheißen. Wir haben aber auch hart daran gearbeitet, dass es auch so bleibt, sind durch das ganze Land getourt, haben überall gespielt, bis die Dinge ins Rollen kamen. Man kann nicht erwarten, in einem Land erfolgreich zu sein, ohne öfter dort gewesen zu sein“, fügt er hinzu.

In einer Zeit, als das Internet noch kein gesamt globaler Standard war, machten die valencianischen Indie-Helden La Habitación Roja eine sehr ähnliche Erfahrung. „Die mexikanischen Fans baten uns, zu kommen und zu spielen. Sie waren unsere Sponsoren! Ich erinnere mich, dass sie Ende der 90er-, Anfang der 2000er-Jahre per Brief oder, zu unserer großen Überraschung, sogar per Telefon Kontakt mit uns aufnahmen. In den Wohnungen unserer Eltern klingelten plötzlich Ferngespräche! Die Fans aus Mexico zeigten ihre Hingabe für LHR. Sie entdeckten uns dank Magazinen wie Rockdelux und Factory. Den Heften lagen Gratis-CDs bei, auf denen wir und andere Bands aus Spanien vertreten waren. Das war sozusagen unsere Eintrittskarte, um über den Ozean zu gelangen“, erklärt Martí.

Und dann ging es los: Ein ständiger Strom spanischer Künstler*innen besuchte Mexiko, Argentinien, Chile, um dort zu touren.  Aber was geschah derweil in Spanien? Wie viele Bands aus Lateinamerika spielten dort? Auf Augenhöhe passierte dieser Austausch nicht. Spanien exportierte viel mehr Bands als es importierte.

Wir hören jede Menge Musik aus Lateinamerika, hauptsächlich urbane Musik, zum Beispiel aus Argentinien“, sagt Marcos Crespo, alias Depresión Sonora, und fügt hinzu: „Vielleicht liegt es an der Infrastruktur unserer Musikindustrie, die es uns leichter macht, Musiker*innen dorthin zu schicken als umgekehrt.

Er ist nicht der Einzige, der darauf hinweist, dass Spanien, obwohl es ein relativ kleines Land ist, über eine gut entwickelte Musikindustrie mit Labels, Magazinen, Venues, Festivals etc. verfügt. Joan Vich, ehemaliger Direktor des Festival Internacional de Benicàssim (FIB) und Direktor von Ground Control Management, bestätigt: „Der spanische Markt ist vergleichsweise klein.

Daher sollten Künstler*innen ihre potenziellen Vorteile noch einmal überdenken, bevor sie viel Geld für eine Tournee in Spanien ausgeben. Darüber hinaus wirft Vich ein Licht auf ein weitaus kontroverseres Thema: den subtilen Rassismus. „Für lateinamerikanischee Künstler*innen ist es viel schwieriger, ein Visum zu bekommen, um in Europa aufzutreten, als für uns Europäer*innen, um dorthin zu kommen. Wir bewegen uns im Bereich der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Nuancen“, fügt er hinzu. 

Mit seiner ruhiger Stimme erzählt Vich von einem seiner Künstler, Ghouljaboy, der derzeit auf dem lateinamerikanischen Kontinent unterwegs ist. „Was bedeutet schon Erfolg? Im Moment spielt Ghouljaboy nicht in Stadien“, sagt er. Dennoch gibt er eine Reihe von Konzerten und zieht überall Aufmerksamkeit auf sich. „Ja, wir könnten mehr Musik exportieren – unsere Branche ist etablierter. Aber in den letzten Jahren wurde in den lateinamerikanischen Ländern hart daran gearbeitet, eine Musikindustrie aufzubauen, und sehr bald werden wir die Resultate dieser Arbeit sehen“, meint der Manager.

Bis jetzt haben wir nur über Logistik gesprochen, was uns vom Wesentlichen ablenken könnte: der Leidenschaft, dem Publikum, der Verbindung zwischen Ländern, Gesellschaften und Szenen. Alle vereint durch ein gemeinsames Interesse: die Musik. Musik in all ihren Formen, Genres und Stilrichtungen. Mal abgesehen vom Geschäft: Warum begeistert sich das lateinamerikanische Publikum für Musik aus Spanien?

Joan Vich, der aus eigener Erfahrung über Ghouljaboy spricht, betont, dass die gemeinsame Sprache eine „einflussreiche Bedeutung“ hat, der Schlüssel aber in den Sounds liege, die der junge Künstler erforscht. „Post-Punk, urbane Sounds und Psychedelica sind sehr populär, vor allem in Mexiko und Chile“, sagt er.

Für Depresión Sonora sind die Gründe ähnlich, wenn man bedenkt, dass „in den 80er- Jahren die erste Post-Punk-Welle mit Bands wie The Cure oder Joy Division aufkam“, die den Grundstein dafür legten, dass sich die Leute für diese Sounds interessierten und somit auch offener für neue Projekte wurden, so wie er selbst. „Die Texte von Ghouljaboy sind ziemlich düster und manchmal auch existenziell – und kamen beim lateinamerikanischen Publikum sehr gut an“, sagt Marc Gili und fügt hinzu: „Andere Bands hatten nicht so viel Glück. Aber sobald Dorian in Mexiko erfolgreich war, haben wir das in Kolumbien, Peru und Chile wiederholt, und jetzt arbeiten wir hart an Argentinien und den USA.

Anders als in den frühen 2000er-Jahren ist das Internet heute der Grund und der Wegbereiter für diese globalisierte Welt. Daher wird es immer schwieriger, Sounds bestimmten Orten oder Perioden zuzuordnen. Grenzen, egal ob kognitiv oder geografisch, spielen keine Rolle mehr. „In der kulturellen Welt von heute ist alles sehr ähnlich geworden. Die Ästhetik, die Reaktionen, die Einflüsse, die Trends: Alles verschwimmt, es gibt keine Unterschiede mehr“, sagt Marcos Crespo von Depresión Sonora. Auf die Frage nach seiner Kunst und warum das lateinamerikanische Publikum so auf seine Musik einsteigt, erklärt er, das sei eine „Generationensache“. 

In meiner Musik geht es um Erfahrungen, die in meiner Generation verstanden werden, unabhängig davon, wo man lebt. Es geht um Lebensfragen, Sorgen und Hoffnungen, die überall gleich sind“, sagt Crespo. Und in einer globalisierten Welt ist es wichtig, die Dinge zu finden, die einen vom Rest unterscheiden. Depresión Sonora: „Es gibt viele gemeinsame Elemente mit anderen Bands aus der ganzen Welt, aber jedes Projekt fühlt sich anders an, ganz je nach Inspirationsquelle. Zum Beispiel Josue de la Tejana, mit dem ich mich gut verstehe. Sein Projekt ist eine Mischung aus traditioneller mexikanischer Musik und Post-Punk. Und ich? Nun, meine Musik hat einen sehr kastilischen, strengen Vibe, was an meinen Wurzeln liegt.

Was uns verbindet und was nicht. „Es gibt viele Dinge, die uns mit Lateinamerika verbinden, aber noch mehr, die uns unterscheiden“, sagt Jorge Martí von LHR. Die Band ist in Mexiko Kult und hat eine treue Fangemeinde, die dank unabhängiger Radiosender wie Reactor oder Radio Íbero und natürlich dem Internet jedes Jahr wächst. „Dass wir einen anderen Akzent haben, die Art, wie wir singen, oder einige unserer eher europäischen Einflüsse … all das könnten Gründe sein, warum man uns dort interessant findet – „anders“ als  lokale Bands“, überlegt der Sänger, bevor er hinzufügt: „Ich erinnere mich an den Rat von Enrique Bunbury, der sagte, dass wir weiterhin hartnäckig bleiben sollten, nachdem wir 2004 zum ersten Mal in Mexiko gespielt hatten. Er sagte, dass das Publikum dort sehr loyal sei und wenn sie dich einmal akzeptiert haben, bist du für immer ihre Band. Seitdem haben wir regelmäßig in Mexiko gespielt, und es funktionierte jedes Mal besser.

Die Leute erleben die Konzerte intensiver als in Spanien. Das ist eine völlig neue Realität! Das Publikum weiß es wirklich zu schätzen, dass man von so weit her kommt, nur um für sie zu spielen, egal ob in Guatemala oder El Salvador. Du singst Songs, die die Crowd seit Jahren singt – und einen hohen Preis bezahlt hat, um dich live zu sehen. Die Emotionen und das Gefühl sind stark. Die Komplexität, die einerseits hinter der Organisation eines Gigs steckt, und andererseits die Preise, die die Fans für die Tickets zahlen müssen, sind viel umfangreicher als zu Hause.

Der Zugang zur Kultur wird zu einem Luxus, den sich nicht alle leisten können. Das ist der Grund, warum wir uns so engagieren. Und so entsteht die Intensität“,  sagt Depresión Sonora. „Die Fans sind fanatisch“, bemerkt Joan Vich und betont: „Im positiven Sinne des Wortes. Sie sind sehr leidenschaftlich, vor allem die Argentinier*innen und die Mexikaner*innen. Sie wollen die Musik feiern, sie sind Hardcore-Fans.“ Es ist schwer, ein Land besonders hervorzuheben, wie Marc von Dorian sagt: „Überall in Lateinamerika ist das Publikum unglaublich. Sie geben alles.