Kandidatur zur Kulturhauptstadr Europas : Kultur, Jugend und Bürgersinn in Aktion
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Die Stadt Clermont-Ferrand, die Wiege von Europavox, hat die letzte und entscheidende Runde im Wettbewerb für die Kulturhauptstadt Europas 2028 erreicht. Wir haben Matthieu Blondeau getroffen. Matthieu war und ist für die Pressearbeit der Stadt verantwortlich und hat den Prozess begleitet. Im Interview spricht er über die Chancen einer Bewerbung, bei der die Jugend und die Musik im Vordergrund stand.
Wann wurde die Bewerbung eingereicht?
Unser aktueller Oberbürgermeister Olivier Bianchi begann die Idee zu formulieren, als er zum stellvertretenden Kulturdezernenten gewählt wurde, das war 2008. Die Idee ist also schon sehr viel älter als die eigentliche Bewerbung. Der Titel der Europäischen Kulturhauptstadt geht alle 13 bis 14 Jahre an eine Stadt in Frankreich. In Clermont fanden bereits 2014 die „Assises de la culture“ statt, mit dem Wunsch, die Kultur im Sinne der Menschen zu gestalten – Europavox ist ein gutes Beispiel dafür. Damit hat alles angefangen. Vor vier Jahren konkretisierten sich die Ambitionen für die Bewerbung, der ausführende Verein besteht seit zwei Jahren. Zunächst gab es eine Ausschreibung – wir mussten die Auswahlkriterien erfüllen, die sich seit 1985 stark verändert haben. Seit 2018 gibt es neue Vorgaben.
Die Bewerbung umfasst die Stadt Clermont-Ferrand, aber auch die ganze Region des Zentralmassivs. Wie kam es zu diesem Konzept?
Zu Beginn ging es ausschließlich um die Stadt Clermont-Ferrand. Wir haben die Bewerbung später auf das gesamte Zentralmassiv ausgeweitet, um unsere gemeinsamen Probleme auch gemeinschaftlich angehen zu können. Die Bewerbung ist zunächst nichts weiter als ein Vorschlag, den ein bestimmtes Gebiet der EU unterbreitet. Wir haben schnell gemerkt, dass wir uns in einer vergleichsweise abgelegenen Region befinden, über die in den Medien kaum gesprochen wird, in der es aber dennoch viele Projekte gibt, die nur darauf warten, umgesetzt zu werden. Clermont ist eine große Stadt auf dem Land. Es ist also durchaus sinnvoll, gemeinsam nach Lösungen für Themen wie Kommunikation oder Mobilität zu suchen. Hinter all dem steht das Projekt „Europe des massifs“: Wir verstanden schnell, dass wir mit unserer Region des Zentralmassivs nicht alleine sind in Europa. Es gibt zahlreiche Gebiete in Mittelgebirgen, mit denen wir uns vernetzen sollten. Die Zusammenarbeit bietet sich an – die Herausforderungen sind ähnlich.
Wie würdest du die Region denen beschreiben, die noch nie hier waren?
In den Bewerbungsunterlagen verwenden wir den Begriff „Mittelerde“. Das ist natürlich eine Anspielung auf Tolkien und vermittelt eine gute Vorstellung der Landschaft, die wir alle im Herzen tragen. Die Region ist sehr weitläufig und gleichzeitig dünn besiedelt. Sie erstreckt sich vom Departement Creuse über den Cantal bis zum Morvan. Dort gibt es Gegenden, die ländlich und weltoffen sind. Ich zum Beispiel komme aus dem Limousin, einer Gegend, aus der viele Menschen abgewandert sind. Seit dem 19. Jahrhundert wurde und wird uns eingetrichtert, dass man woanders hingehen muss, um erfolgreich zu sein. Ich bin in Limoges aufgewachsen, meine Großeltern kamen aus den Departements Corrèze und Creuse. Für mich ist es sehr wichtig, dass die Bevölkerung in Clermont-Ferrand bestrebt ist, die Region wieder für ihre Lebensqualität zu schätzen, insbesondere seit der Corona-Zeit. Wir sind dabei, Lösungen für Menschen zu finden, die hierher ziehen möchten. Genauso wichtig ist es, junge Menschen aus der Region davon zu überzeugen, hierzubleiben. Das ist mir ganz besonders wichtig. Ich spüre hier ein riesiges Potenzial . Besonders in Clermont habe ich die Hoffnung, das umsetzen zu können.
Das Thema der Jugend liegt uns bei Europavox besonders am Herzen.
Ich kenne Europavox gut. Bis vor kurzem war ich für die Kommunikation des EU-Parlaments in Frankreich zuständig. In dieser Zeit haben wir den Europa-Tag sieben Mal gemeinsam gestemmt, eine Tournee im Jahr 2019 zur Mobilisierung junger Menschen und zahlreiche Veranstaltungen organisiert. Ich renne damit natürlich offene Türen ein, aber wir müssen uns immer wieder vergegenwärtigen, dass die jungen Menschen keineswegs politikverdrossen sind. Sie zeigen bürgerschaftliches Engagement, insbesondere bei Umweltthemen. Gleichzeitig fühlen sie sich bei vielen Themen nicht angemessen repräsentiert. In Europa gibt es ein ganzes Bündel von Maßnahmen, die für die Weltoffenheit junger Menschen von besonderer Bedeutung sind. Und wir haben Lösungen, um sie auf die europäische Agenda zu bringen. Mit Europavox haben wir die Gelegenheit, bestimmte Dinge klarer herauszustellen – Emotionen und all das, worüber sich junge Menschen austauschen. Was sie zusammenbringt. Nach Corona haben wir gesehen, dass Menschen das Bedürfnis haben, zusammenzukommen, sich zu treffen – Europavox ermöglicht genau das. Die Jugend hat eine großartige Energie – und enorme Erwartungen. Wir haben die Pflicht, eine Brücke zwischen diesen Erwartungen und den gesellschaftlichen Entwicklungen zu schlagen. Was Europavox vor 17 Jahren gestartet hat, ist mit dem Projekt der Europäischen Kulturhauptstadt vergleichbar. Europa und Kultur sind zwei Begriffe, die lange Zeit als weit vom Alltag der meisten Menschen entfernt oder gar elitär galten. Tatsächlich sind es aber Werte, die uns zusammenbringen können – und diese Idee steht im Mittelpunkt unserer Bewerbung. Dazu gehören auch Tanzveranstaltungen für kleine Gemeinden, ältere Menschen, die Videospiele spielen und Stand-Up-Comedy.
Im Bestreben, Europäer*innen zusammenzubringen, spielt Musik natürlich eine entscheidende Rolle. Was bedeutet die Bewerbung aus musikalischer Sicht?
Alle musikalischen Ausdrucksformen sind vertreten. Thylacine, der uns von Anfang an begleitet hat, hat eine Residency bei uns. Elektronische Musik ist aktuell sehr en vogue – sie funktioniert universell. Das gilt tatsächlich für die meisten Styles. Einige unserer Akteur*innen arbeiten mit Creative Europe (einem Programm der Europäischen Union, das sich unter anderem an den Kultursektor richtet) zusammen, das europäische Partnerschaften voraussetzt.
Was hältst du vom Projekt Europavox Campus, dem ersten Musik-Sprungbrett für europäische Studierende?
Zunächst einmal ist es wichtig, dass sich Studierende verschiedener Nationalitäten treffen können. Mir gefällt, dass wir vom Klischee des Erasmus-Semesters, das „nur in Barcelona stattfindet“, wegkommen. Mich spricht auch die Seite an, die dem traditionellen Universitätsstudium lange Zeit gefehlt hat. Es ist ein Programm, bei dem die Studierenden aktiv werden und zusammenkommen. Ich liebe die Vielfalt der Nationalitäten, aber auch der vertretenen Stile: Auf diese Weise öffnet man sich gleich doppelt.
Gibt es im Rahmen der Bewerbung bestimmte Projekte, die dir persönlich besonders am Herzen liegen?
Da wäre zum einen die „Compagnies de Colportage“, eine Reihe von Aufführungen und Workshops, die im gesamten Zentralmassiv stattfinden werden. Ich erwähne auch die „Grandes Traversées“, die sich ein ganzes Jahr lang mit verschiedenen Themen befassen werden, kulturelle Programme anbieten und die verschiedenen künstlerische Ausdrucksformen im gesamten Gebiet miteinander vermischen. Ein drittes Projekt, das mir wichtig ist, ist „Le Forum des Massifs“. Hierbei stehen Treffen zwischen Menschen im Mittelpunkt, die in Gebieten leben, die unserem ähnlich sind, z. B. in Tschechien und in Portugal. Wir werden diesen kulturellen Kitt nutzen, um Bürger*innen Lösungen vorzuschlagen und anzubieten.
Worauf bist du bei der Kandidatur besonders stolz?
Da geht es mir eher um das Kollektive als um das Persönliche. Mir gefällt der Gedanke, dass wir den Bewohner*innen des Zentralmassivs gezeigt haben, dass wir es bis ins Finale um die Europäische Kulturhauptstadt schaffen können, und dass wir zu viel mehr fähig sind, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Das ist eine echte Anerkennung.
Clermont-Ferrand ist eine von vier Städten in Frankreich, die von der Jury in die engere Wahl gezogen wurden. Wie sehen die nächsten Schritte bis zur Verkündung des Ergebnisses Ende 2023 aus?
Es wird im Oktober oder November einen eintägigen Besuch der Jury geben. Bei dieser Gelegenheit werden wir den Mitgliedern all unsere Projekte und das ganze Potenzial unserer Region und vor allem unsere Motivation präsentieren. Bei der Bewertung ist es sehr wichtig, dass die Jury spürt, wie das Projekt von den lokalen Akteur*innen und der Öffentlichkeit angenommen wird. Dazu werden wir eine zweite, noch umfangreichere Bewerbung einreichen – die das gesamte kulturelle Programm enthält, aber auch generell mehr ins Detail geht. So wollen wir zeigen, dass wir auch tatsächlich auch in der Lage sind, alles umzusetzen, was wir ursprünglich vorgeschlagen haben. Die Antwort kommt dann ab November. Aktuell konzentrieren wir uns vor allem auf diesen zweiten Schritt. Wenn wir in die nächste Runde kommen, haben wir vier Jahre Zeit, um aus Clermont-Ferrand eine europäische Hauptstadt zu machen.
Was zeichnet deiner Meinung nach die ideale europäische Kulturhauptstadt aus?
Sie muss natürlich zuallererst ein kultureller Schmelztiegel sein. Früher ging es vor allem um Architektur, später hat man nach und nach soziale, politische und gesellschaftliche Elemente mit einbezogen. Den Texten zufolge soll es eine integrative Hauptstadt sein, die Lösungen für die großen zeitgenössischen Herausforderungen Europas bieten soll – Umweltschutz ist dabei von entscheidender Bedeutung. Das bürgerliche Engagement wird derzeit in ganz Europa auf eine harte Probe gestellt. Daher müssen wir Lösungen vorschlagen, mit deren Hilfe sich die Menschen stärker mit der europäischen Demokratie identifizieren können. Wir würden gerne eine Art neuen, europäischen öffentlichen Raum schaffen, in dem die Menschen Lust haben, sich zu begegnen und zu debattieren – genauso, wie ihr es bei Europavox tut. Die Kultur spielt dabei natürlich eine zentrale Rolle. Allerdings ist sie dabei nur eines der sechs Auswahlkriterien. Für mich ist es entscheidend, ein hervorragendes Kulturprogramm zu haben und gleichzeitig die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen, um unseren gemeinsamen Lebensraum und unsere Demokratie voranzubringen und möglichst viele Menschen mit einzubeziehen.
clermontferrandmassifcentral2028.eu
Interview im Rahmen von Europavox Campus, dem ersten europäischen Musik-Sprungbrett für Studenten