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Kann man Kreativität unterrichten?

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Kann man Kreativität unterrichten?

Kreativität galt jahrelang als Talent, mit dem nur wenige Menschen ausgestattet sind. Nun aber werden in vielen Ländern Lernprogramme entwickelt, die Kreativität fördern sollen, insbesondere im musikalischen Bereich. Professor Øystein Røsseland Kvinge von der Western Norway University of Applied Science (Europavox Campus) und der zypriotische Musiker/Produzent Freedom Candlemaker geben uns einen Einblick in die Bedeutung von Kreativität in der Musik – und auch im Leben.

Wir Menschen haben dank unserer überlebenswichtigen Fähigkeit zur Zusammenarbeit auch die besondere Gabe, Beschäftigungen nachzugehen, die uns glücklich machen. Kunst, Dinge erschaffen, Musizieren, Lesevergnügen: eben all diese angenehmen  Dinge zu tun, die das Leben angenehm gestalten. Dass das unter Umständen von einem Teil unserer modernen Welt, die vom Geld regiert wird, als sinnlos angesehen wird, spielt dabei keine Rolle. „Wollen wir berühmt werden, viel Geld verdienen – was ja im Grunde keine schlechte Sache ist – oder wollen wir uns weiterentwickeln, Dinge beeinflussen, etwas bewegen?“, fragt Freedom Candlemaker, alias Lefteris Moumtzis, einer der bekanntesten Musiker und Produzenten in Zypern. „Bedeutet kreativ zu sein, die ganze Zeit Musik zu produzieren? Wir können bei allem was wir tun kreativ sein, z. B. bei der Art und Weise, wie wir kommunizieren. Sich dazu anregen zu lassen, die Dinge um sich herum zu verbessern: Das ist es, was Kreativität für mich bedeutet.“  

Freedom Candlemaker visuel BP 2023

Freedom Candlemaker (CY)

Für Freedom Candlemaker ist Musik seit seiner Kindheit die große Leidenschaft. Im Alter von sechs Jahren begann er Klavier zu lernen. Mit 14 nahm er Saxophonunterricht und lernte Gitarre, Bass und Schlagzeug. Er studierte Musik in Boston, Massachusetts, und später im englischen Birmingham. Natürlich weiß er, dass sein Studium von Vorteil war, ist sich aber auch sicher, dass Erfahrung entscheidend ist. „Meine Musikausbildung spiegelt nur einen kleinen Teil dessen wider, was ich heute tue. Das meiste habe ich durch eigene Erfahrung gelernt. Ich habe Dinge gelernt, indem ich sie einfach gemacht habe“, sagt er. 

Neben seinem umfangreichen musikalischen Repertoire von seiner Neo-Retiko-Band Trio Tekke bis hin zu seinen Dreamy-Pop- und Nu-Folk-Soloalben ist Freedom Candlemaker auch der Gründer des Independent-Labels Louvana Records, der künstlerische Leiter des Lefkosia Loop Festivals, des Fengaros Festivals und des Fengaros Music Village, wo zahlreiche Workshops zu Musik, Theater und Bewegung angeboten werden. Kreativität ist für ihn ein universelles Ausdrucksmittel, mit dem Menschen ihre Vorstellungskraft direkt nutzen, um ihre Gedanken und Gefühle mit aller Kraft zu kommunizieren. „Kreativität ist Freiheit. Kreativ zu sein ist wie Selbstfürsorge. Du schaust in dich hinein, um Antworten zu finden. Wenn Menschen unterdrückt werden, verändert sich die Welt, und das kann zu Gewalt führen – von klein bis groß“, sagt er.

Lernen, kreativ zu sein

Studien haben gezeigt, dass Kreativität eine wesentliche menschliche Fähigkeit für lebenslanges Lernen darstellt – möglicherweise ein evolutionärer Imperativ in unserer technologiegetriebenen Welt. Kreativität inspiriert zum kollektiven Denken, fördert Ideen, motiviert und unterstützt Resilienz. Es gibt Hinweise, dass Kreativität trainiert und in kreativen Umgebungen gefördert werden kann, insbesondere im Bereich der Musik. Diese Tatsache ist in Europa nicht unbemerkt geblieben: Jedes Jahr finden 66 Musiksommerkurse auf dem ganzen Kontinent statt. Darunter das Young Artists Summer Camp, das von der Reina Sofia School of Music in Madrid für Kinder von 8 bis 18 Jahren veranstaltet wird, um deren musikalischen Talente auf spielerische Weise zu fördern. Ferner bietet die Freie Universität Berlin in der Internationalen Sommer- und Winteruniversität (FUBiS) den Kurs Berlin: Musik und Sound im digitalen Zeitalter an, wo man alles über musikalische Kreativität und technische Entwicklungen lernen kann. Der Kurs richtet sich an Student:innen jeder Disziplin ohne musikalische und technologische Vorkenntnisse. In Griechenland teilt die Griechische Gesellschaft für Musikerziehung die Grundprinzipien, Funktionen und Ziele der Internationalen Gesellschaft für Musikpädagogik (ISME), um eine Gemeinschaft von Musikpädagog:innen aufzubauen, die Zusammenarbeit zu fördern und die Musikpädagogik für Menschen jeden Alters zu fördern.

Aber kann die Kreativität der Student:innen tatsächlich gefördert werden? „Ja“, sagt Øystein Røsseland Kvinge, außerordentlicher Professor an der Western Norway University of Applied Science. „Ich unterrichte Musik am Institut für Kunsterziehung, wo wir auch Schauspiel- und Kunsthandwerkserziehung anbieten. Einige unserer Masterstudent:innen fragen sich, was die Kreativität ausmacht. Sie beschäftigen sich mit den Phänomenen des „Flow“ in ihrer eigenen Musik. „Flow“ ist der Zustand, in dem du dich befindest, wenn du Zeit und Raum vergisst und vollständig in das eintauchst, an dem du gerade arbeitest. Sie versuchen herauszufinden, wie man dieses Gefühl stimulieren kann und bringen ihre persönlichen Erfahrungen ein, um die Schüler:innen in diesen Zustand zu bringen. Andere Student:innen experimentieren damit, welche kreativen Reaktionen das Musikmachen auslöst. Ein Projekt dabei: Bilder und Fotografien in Musik zu übersetzen. Viele unserer Masterstudent:innen erforschen die Kreativität als Thema ihrer eigenen Studien.“  

Visuel Can you teach creativy _ Øystein Kvinge

Pr. Øystein Røsseland Kvinge

Kvinges Studierende lernen außerdem kreative Prozesse auf der Grundlage etablierter Methoden. In diesem Herbst beschäftigten sie sich intensiv mit der WASO-Methode. Das steht für „Write a science opera!“, also „Schreibe eine Wissenschaftsoper“. Konkret geht es darum, ein Seminar in ein Opernensemble zu verwandeln, ein kreativer Ansatz für die forschungsbasierte Musik- und Wissenschaftspädagogik, bei dem Student:innen, unterstützt von Lehrer:innen, Opernkünstler:innen und Wissenschaftler:innen, eine erzieherische Performance erarbeiten.  

Diese Methode basiert auf MINKT, einem integrierten Lernansatz, der die Kunst mit den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) verbindet. „Wir haben diesen Herbst auch das 50jährige Jubiläum des HipHop gefeiert und eine Woche lang erforscht, welche Werte und Praktiken die HipHop-Pädagogik bieten könnte“, sagt Øystein Røsseland Kvinge. Die Student:innen verbrachten viel Zeit damit, die HipHop-Kultur und ihre Themen wie Gedankenfreiheit, Flexibilität, Wahrheitsfindung, Authentizität und Selbstvertrauen zu erkunden. „Meine Student:innen haben daran gearbeitet, Moves, Rap-Texte und Beats für ihre eigenen Auftritte am Ende des Projekts zu entwickeln. Das Sampling von Sounds mit Ableton Live war dabei ausschlaggebend, um über Kreativität nachzudenken.“

Gute Didaktik. Wie geht das?

Wenn man Kreativität tatsächlich unterrichten kann, müssen sich Musikprofessor:innen großen Herausforderungen stellen. „Eine davon ist, genügend Zeit zu finden, um kontinuierlich zu forschen. Kreativität ist mit viel Zeitaufwand für die Erforschung komplexer Probleme verbunden, an die man erst einmal gar nicht denkt. Man muss lange daran arbeiten, um in einen Flow-Modus zu kommen.“ sagt Øystein Røsseland Kvinge kennt die Herausforderungen für Dozent:innen, die sich dem kreativen Lernen und den Ideen der Studierenden verschrieben haben. Hier muss der richtige Weg gefunden werden, diese möglichst genau zu realisieren. Diese Anpassungsfähigkeit wurde von Professor:innen des Stord/Haugesund University College und der Universität Bergen in der Forschungsstudie Improvisation in Teacher Education (IMTE) bearbeitet. „Eine unserer Schlussfolgerungen war, dass gute Lehrer:innen auf alle Aktionen und Tätigkeiten im Klassenzimmer reagieren können. Sie sollten zum Beispiel in der Lage sein, Themen zu entwickeln und entsprechende Anregungen zu geben. Sie sollten auch über ein umfangreiches Repertoire an Möglichkeiten verfügen, um sowohl auf das Vorhersehbare als auch auf das Unvorhersehbare reagieren zu können“, heißt es in der Studie. Pädagog:innen müssen ihre berufliche Wissensbasis ständig überdenken und ihre Lehrmethoden verbessern oder überarbeiten, um den Lernbedürfnissen der Studierenden mit zunehmend vielseitigen Interessen gerecht zu werden.

Ähnlich wie in der Musik ist das Unterrichten eine von Natur aus improvisierte Tätigkeit. Dessen sind sich sowohl die Pädagog:innen als auch die Student:innen von Kvinges Universität bewusst. „In einem unserer Masterprogramme haben wir die Studierenden gebeten, Bücher über Improvisation in der Kunst und auch in der Didaktik zu lesen. Danach beobachteten sie den Unterricht und befragten später die Professor:innen. Die Student:innen lernten, zu forschen und gleichzeitig zu improvisieren. Wir betonen auch, dass die Fähigkeit, im Klassenzimmer zu improvisieren, Erfahrung und ein breit gefächertes Repertoire erfordern. Das sind wichtige Voraussetzungen, die den Student:innen zu Beginn ihrer Karriere oftmals fehlen.“

Als Jazzmusiker, erklärt Kvinge, verwendet er Leadsheets die vereinfachte Notationsweise aus Melodie und Harmonien, mit der Jazzmusiker:innen improvisieren als Metapher: Die Power Point, die oft eine Vorlesung in der Hochschulbildung begleitet, ist das wesentliche Leadsheet, aus dem interessante Ideen entstehen könnten. „Mit dieser Metapher beteilige ich die Studierenden an diesen Präsentationen und Kursen. Ich denke auch im Voraus darüber nach, auf welche Weise die Folien gestaltet werden sollten, um Diskussionen über ihren Inhalt anzuregen.“  

Laut Kvinge ist Kreativität in Norwegen von zentraler Bedeutung für die übergreifenden Prinzipien der Lehrpläne. „Schulen müssen Schüler:innen die Freude daran vermitteln, etwas Eigenes zu schaffen, indem sie gewissermaßen ins Lernen eintauchen (in einen Flow) und neugierig sind“, erklärt er. Der Musikunterricht in all seinen Varianten hat laut dem Professor viele Qualitäten, auch wenn, zumindest in Norwegen, Künstler:innen heutzutage kaum gefragt sind. „Der Fokus auf Kernfächer wie Naturwissenschaften oder Sprachen lenkt viele potenziell hervorragende Musiklehrer:innen davon ab, Musikwissenschaften als Teil ihrer pädagogischen Ausbildung zu wählen. Ich hoffe und glaube, dass Musik und Kunst im Laufe der Zeit immer mehr Beachtung finden werden und sich zu einer starken Kraft bei der Ausbildung von Menschen und der Gestaltung von Gemeinschaften entwickelt. Der Europavox Campus ist ein großartiges Beispiel dafür, dass Musik so viel mehr beinhaltet als nur die Performance selbst, auch wenn sie unerlässlich ist. Die Veranstaltung beweist, dass Musik die Kraft hat, bedeutungsvolle Begegnungsstätten über Grenzen und Kulturen hinweg zu schaffen.“  

Erfahrung, Wissen, Fantasie und Kreativität. Darauf kommt es an.

yann cabello remise des prix campus
Europavox Campus 2023 : die vier Finalist*innen: Astroturf (NO), elen in wavs (DE), Swane Vieira (FR) Gabriel Roșu (RO) © Yann Cabello