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Der Sound der Inklusion: Gender-Diversität in der Musik

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Der Sound der Inklusion: Gender-Diversität in der Musik

Die europäische Musikindustrie ist die Heimat vieler talentierter und erfolgreicher FLINTA* (Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, trans und agender Personen)-Musiker*innen, die mit ihrer Kreativität einen signifikanten Beitrag zur Welt der Musik geleistet haben. Trotz ihrer künstlerischen Leistungen sehen sich diese Musiker*innen weiterhin mit zahlreichen Herausforderungen in der Branche konfrontiert, die von geschlechtsspezifischer Diskriminierung bis hin zu mangelnder Repräsentation und Sichtbarkeit reichen. FLINTA*-Musiker*innen müssen jeden Tag für Gleichberechtigung und Gleichstellung kämpfen, manche laut und offen, manche eher im Hintergrund. Organisationen und Verbände wie Keychange, MEWEM und shesaid.so unterstützen sie in ihrem Engagement. Mit Hilfe einiger europäischer FLINTA*-Musiker*innen und Keychange werfen wir einen Blick auf den Status quo: Wo liegen die entscheidenden Probleme? Und wie können wir die Gesamtsituation verbessern?

Beginnen wir mit dem Offensichtlichen: Geschlechterdiskriminierung

Geschlechterdiskriminierung ist nach wie vor eine große Herausforderung für FLINTA*-Musiker*innen, nicht nur in der europäischen Musikindustrie. Die Bereiche, in denen es zu Diskriminierung kommt, sind vielfältig – von Plattenlabels über Radiosender bis zu Live-Auftritten. „In Kroatien geht es praktisch immer zuerst um unseren Lebensstil, unsere Geschlecht und unsere Sexualität. Erst dann um unsere Musik,“, sagt Sara Ercegović von der kroatischen Rockband Žen, eine der vielen europäischen Bands, die in ihrer Musik queer-feministische Themen aufgreifen. Das deckt sich mit dem, was die österreichische Surf-Garage-Rock-Band DIVES fordert: „Wir müssen das Othering von FLINTA*-Menschen beenden, wir sind kein eigenes Genre.“ Natürlich müssen wir die Existenz von nicht-CIS-Musiker*innen anerkennen. Alle in einen Topf werfen ist aber auch nicht richtig – es gibt eine große Vielfalt innerhalb der FLINTA*-Musikgemeinschaft.

Žen

Cash Cash Money: Finanzielle Diskriminierung

Eine ebenso wichtige Tatsache ist, dass FLINTA*-Musiker*innen oft nicht die gleichen Chancen haben wie ihre männlichen Kollegen, einschließlich des Zugangs zu Plattenverträgen, Airplay und – vor allem – finanzieller Unterstützung. Diese geringere Absicherung führt dazu, dass FLINTA*-Menschen weniger bereit sind, Risiken einzugehen, erklären DIVES.

Bleiben wir beim Thema Geld: Das geschlechtsspezifische Lohngefälle – der Gender Pay Gap –  ist auch in der Musikindustrie nach wie vor Thema. FLINTA*-Musiker*innen werden immer noch oft deutlich schlechter bezahlt als ihre CIS-Kollegen. Das liegt zum Teil daran, dass FLINTA*-Musiker*innen auch heute noch seltener bei großen Veranstaltungen und Festivals gebucht werden. Nicht genug Geld zu verdienen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, bedeutet, dass man neben seiner kreativen Tätigkeit noch andere Jobs ausüben muss. Von der  New-Wave-Band ZIMBRU heißt es dazu ganz richtig: „Es ist albern zu glauben, dass jemand den kreativen Willen und den Antrieb hat, nach acht Stunden Arbeit noch Musik zu schreiben.

Noch schlimmer ist die Situation für Musiker*innen aus Minderheitengruppen, einschließlich der FLINTA* of colour, die einer doppelten Diskriminierung ausgesetzt sind, sowohl aufgrund ihres Geschlechts als auch ihrer Hautfarbe. ZIMBRU unterstreichen diese Relevanz der Intersektionalität: „Darauf sollten wir uns konzentrieren. Und darauf, wie wir nicht-weiße und nicht-europäische Narrative in den Mittelpunkt stellen können.

Repräsentation: (un)sichtbare Diskriminierung

Repräsentation ist wichtig,“ erklären DIVES – zu Recht! Die Branche ist weitgehend männlich dominiert, und die meisten Führungskräfte, Manager*innen und Promoter*innen sind CIS-Männer. Dieser Mangel an Repräsentation auf der obersten Ebene führt regelmäßig zu einem Mangel an Sichtbarkeit für FLINTA*-Musiker*innen, die oft an den Rand gedrängt oder ganz ignoriert werden. Dies erschwert es den Musiker*innen, Anerkennung zu erlangen und sich eine Fangemeinde aufzubauen, was ihre Erfolgschancen in der Branche einschränkt.

DIVES

Ein bisschen weniger Diskreminierung, ein bisschen mehr Haltung. Ach was, deutlich mehr Haltung!

Keychange ist eine der Organisationen, die die Gleichstellung aller Geschlechter mit einem intersektionellen Ansatz auf systemischer Ebene fördert. Auf die Frage, worauf wir unsere Energie jetzt konzentrieren sollten, antwortet Francine Gorman, Projektmanagerin bei Keychange: „Wir brauchen gezielte Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Musikindustrie Chancengleichheit für alle Geschlechter schafft und die Anzahl der Barrieren abbaut, mit denen Frauen und geschlechtsexpansive Kreative und Fachleute konfrontiert sind.

Eine offensichtliche Lösung zur Verringerung der geschlechtsspezifischen Diskriminierung? Quoten! Von der Band DIVES heißt es weiter zum Thema Othering von FLINTA*-Musiker*innen: „Musik von FLINTA*-Personen wird oft als eigenes Genre und in speziellen Veranstaltungen vermarktet. Daraus resultiert einerseits, dass von Männern gemachte Musik als ‚normal‘ postuliert wird. Männlich ist also die Norm. Und die Musik von FLINTA*s wird so zu einer eigenen Kategorie, womit gleichzeitig auch der Eindruck bestärkt wird, sie bilden eine Ausnahme und Minderheit. Andererseits machen problematische Kategorien wie ‚Girl Band‘, ‚Frauenmusik‘ etc. und Veranstaltungen unter solchen Mottos ebenso benachteiligte und unterrepräsentierte inter, trans und nicht binäre Personen unsichtbar. Oder sie werden falsch gegendert, was auch nicht okay oder zielführend ist.

Das Quoten-Argument führt oft genug zu Kommentaren wie: „Ich würde gerne mehr FLINTA*-Musiker*innen buchen, aber es gibt einfach nicht genug in [Genre XY]!“ Da ist sie wieder, die Unterrepräsentation. Denn natürlich gibt es  ausreichend FLINTA*-Musiker*innen in allen Genres, um geschlechtergerechte Besetzungen sicherzustellen. Aber da sie nicht die gleiche Sichtbarkeit aufgrund von Algorithmen und Medien erhalten, ist schlicht mehr Recherche erforderlich, um sie auch zu finden. Leider macht sich niemand gerne zusätzliche Arbeit.

Das Zusammendenken von Finanzierung und Quoten könnte die Lösung sein. Kein geschlechtergerechtes Line-up? Keine Förderung! In Francine Gormans Worten: „Geldgeber*innen können darauf bestehen, dass in allen Förderungsanträgen Nachweise für Maßnahmen zurGeschlechtergleichstellung erbracht werden, und damit eine Vorbildfunktion übernehmen, indem sie dafür sorgen, dass ihr eigenes Personal und ihre Entscheidungsteams geschlechtsspezifisch gemischt sind.

Weiterbildung und Trainings spielen ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Bewältigung der Herausforderungen, mit denen FLINTA*-Musiker*innen in der Musikindustrie konfrontiert sind. Dies kann durch das Anbieten von Schulungs- und Mentor*innenprogrammen geschehen, die Musiker*innen helfen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und sich erfolgreich(er) in der Branche behaupten. Das europäische Projekt MEWEM zum Beispiel ist so ein Mentor*innenprogramm, das nicht nur Mentoring sondern auch Workshops und Schulungen für FLINTA*s anbietet, die relativ am Anfang ihrer Karriere stehen.

Sexuelle Belästigung und Übergriffe

Sexuelle Belästigung und Übergriffe sind nach wie vor ein großes Problem in der Musikbranche, insbesondere für FLINTA*s. Viele Musiker*innen haben über ihre Erfahrungen mit sexueller Belästigung und Übergriffen gesprochen, die oft von CIS-Männern in der Branche verübt wurden. Dies hat zu einer Kultur der Angst und des Schweigens geführt. Viele Musiker*innen trauen sich nicht, darüber zu sprechen, aus Angst, ihre Karriere zu verlieren.

ZIMBRU: „Heute Morgen habe ich den Jahresbericht der ILGA (International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association) über die Lage der LGBTI in Europa und Zentralasien gelesen. Es ist schlimm. Das vergangene Jahr war das gewalttätigste für LGBTI-Menschen im letzten JAHRZEHNT. Ich muss das groß schreiben, weil ich das Gefühl habe, dass die Menschen (vor allem im Westen) dieses Themas überdrüssig sind und denken, dass sich Homophobie erledigt hat und wir keinen Aktivismus oder Feminismus mehr brauchen. Ich lade diese Menschen ein, sich auch die Statistiken über häusliche Gewalt anzusehen.

ZIMBRU

Eine der wichtigsten Lösungen im Kampf gegen sexuelle Belästigung und Übergriffe sind Safe Spaces. Mehr Safe Spaces. Der deutsche Verein Safe The Dance ist einer der wenigen, der sich mit Workshops, Vorträgen und Evaluierungen für die Sensibilisierung und Aufklärung zu diesen Themen engagiert.

Francine Gorman sieht auch Regierungen in der Pflicht, aktiv zu werden. „Natürlich können auch auf diesem Level Mechanismen etabliert werden, um die Belästigung und Diskriminierung am Arbeitsplatz anzugehen. Wir müssen das tun, um Frauen und geschlechtsexpansive Fachkräfte in der Kreativbranche abbilden zu können.

Was können wir alle tun?

Francine Gorman von Keychange erklärt: „Um eine Veränderung herbeizuführen, müssen wir uns zunächst ansehen, mit wem wir arbeiten und welche Möglichkeiten sich daraus ergeben. Fangen wir klein an. Ein Showcase in einem eher kleinen Venue. Das Geschlechterverhältnis bei Künstler*innen, Techniker*innen und Team lässt sich hier wunderbar überprüfen. Das gilt auch für Labels. Wenn das Verhältnis nicht stimmt, ist eine Selbstverpflichtung denkbar, um genau dieses Verhältnis zu korrigieren. Man kann auch das Gleichgewicht der Geschlechter im eigenen Team, den leitenden Angestellten und den Vorstandsmitgliedern sowie die Repräsentation von Künstler*innen, die bei eigenen Veranstaltungen auftreten, überprüfen – und so sicherstellen, dass die Stimmen der Geschlechtervielfalt auf jeder einzelnen Ebene präsent sind und gehört werden.

Francine Gorman

Es gibt also zahlreiche Möglichkeiten und Gelegenheiten, aktiv zu werden und sich für Veränderungen einzusetzen –individuell, kulturell und auch auf staatlicher Ebene. Das Einzige, was wir nicht tun dürfen, ist nichts zu tun.

Um noch ein wenig Hoffnung für die Zukunft zu geben: Hier die Antworten der drei Bands auf die Frage:

Was ist eure größte Errungenschaft bis jetzt?

DIVES: „Fans im Kindesalter, die uns losgelöst von unserer Gender-Appearance einfach wegen unserer Musik toll finden und deren Wahrnehmung wir dahingehend auch positiv beeinflussen konnten.

ZIMBRU: „Meine größte Leistung ist es, Freund*innen zu finden. Je älter ich werde, desto größer ist meine Errungenschaft, diese Freundschaften zu erhalten und trotz Veränderungen zu bewahren.

Sara Ercegović von Žen: „Unser Leben laut und stolz zu leben. Ohne Angst, nicht akzeptiert zu werden. Und uns selbst über all die Jahre treu geblieben zu sein.