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Gucken, mitfiebern, dabei sein: So entstehen gute Konzertmitschnitte

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Gucken, mitfiebern, dabei sein: So entstehen gute Konzertmitschnitte

Über Musik zu schreiben, ist wie über Architektur zu tanzen.“ Auch wenn nicht bekannt ist, auf wen dieser Sager zurückgeht: Richtig ist er zweifellos. Musik lässt sich erst dann angemessen in Worte fassen und beschreiben, wenn man sie gehört hat.

Gilt das auch für Konzertfilme und -mitschnitte? Ist es überhaupt möglich, die Atmosphäre einer Live-Show auf Video festzuhalten? Wie authentisch ist es, sich einen Mitschnitt anzuschauen, statt selbst dabei gewesen zu sein? Die Produzent*innen von Live-Mitschnitten argumentieren, dass es natürlich nicht dasselbe ist, ein Video anzuschauen, die Filme aber gleichzeitig immer besser werden, wenn es darum geht, das „Dabeisein“ einzufangen. Die Idee des Video-Mitschnitts ist alles andere als neu. Schon in den 60er- und 70er-Jahren fing eine Kamera (ja, oft nur eine) TV-Auftritte von Bands ein.  Heute wäre das undenkbar. Eine Kamera? Festival-Performances großer Bands werden akribisch dokumentiert und im Bewegtbild festgehalten und ausgestrahlt, oft mit wenig Zeit für die Post-Produktion. Die Technik macht das möglich.

Aber was ist mit denjenigen, für die der Konzertmitschnitt eine ganz eigene Kunstform ist?

FOTO ©HMWK – Europavox Sessions #2

Macher*innen bei ihrer Arbeit

In einer perfekten Welt ist das Live-Video ohnehin genau das – ein echtes Kunstwerk.Vor schöner Kulisse, mit tollem Publikum und einer auf die Aufnahme zugeschnittenen Setlist läuft es. Ein legendäres Beispiel dafür ist Nirvanas sensationeller – wenngleich bemerkenswert untypischer – Gig für MTV Unplugged.

Die Europavox Sessions, die 2023 zum zweiten Mal in Zusammenarbeit mit ARTE beim Europavox-Festival in Clermont-Ferrand stattfanden, werden dieser Prämisse gerecht. Die Sets wurden in einer kontrollierten Umgebung aufgenommen – mit kleinem Publikum und in einer fast schon versteckten Location hinter einer der Festival-Bühnen. Ausgedacht hat sich dieses Setting Jose Correia, der Programmchef des Festivals. Fans sind den Künstler*innen so besonders nah.

Die Idee ist, dass das Publikum die europäische Szene in ihrer ganzen Vielfalt kennenlernt“, sagt Correia. „Die künstlerische Herangehensweise besteht darin, einen schönen Rahmen als Kulisse zu nehmen, einen schönen Aufbau, der aussagekräftiger ist als das übliche Bühnen-Setup. Vor der Aufnahme treffen sich die Künstler*innen mit der Regie und sprechen darüber, wie sie präsentiert werden möchten. Dabei geht es um Wünsche, aber auch um spezielle Ideen. Bei der Session von Christine and the Queens in einer Kirche, die das ARTE-Team bereits für andere Produktionen ausgewählt hatte, gab die Regie das Setting vor, die Band jedoch brachte eigene Ideen ein und engagierte zusätzliche Musiker*innen. Natürlich geht es in dieser Annäherung immer um Kompromisse, um die Kombination aus kreativer Filmerfahrung und den Vorstellungen der Band.

Correria fährt fort: „Wir können mehrere Takes machen. Das Problem ist, dass dadurch das Live-Gefühl und die Interaktion zwischen Publikum und den Künstler*innen mitunter  gestört werden. Wir vermeiden solche Situationen so gut es eben geht. Der Schlüsselelement ist das Editing. Hier entsteht das Storytelling.

Svaneborg Kardyb (Dänemark) – Europavox Sessions 2023

Die griechische Folk-Pop-Ikone Marina Satti war bei den ARTE-Sessions zu Gast. Sie sieht die direkte Verbindung zwischen der Live-Performance und der Live-Aufnahme. „Ich arrangiere alles selbst“, sagt Satti. „Ich führe Regie bei meinen Live-Shows und meinen Choreografien. Wenn ich beim Visuellen mitwirke, ist das eine sehr persönliche Darstellung meiner Identität. Ich versuche, in meinen Videos die gleiche Mischung aus Einflüssen aus Griechenland, dem Balkan und dem östlichen Mittelmeerraum einzubringen. Bei Aufnahmen wie mit ARTE bin ich zwar immer etwas aufgeregt, aber ich versuche zu vergessen, dass ich gefilmt werde, und konzentriere mich auf den Live-Aspekt des Auftritts“.

Satti war auch schon in Colors zu sehen, einer minimalistischen Serie, bei der eine Reihe internationaler Künstler*innen vor einem Greenscreen auftraten, der ganz nach ihren Vorstellungen gestaltet wurde.

Colors ist eher minimal, ich aber eigentlich gar nicht“, sagt Satti lächelnd. „Über die Einladung habe ich mich sehr gefreut. Ich habe schon so viele Künstler*innen durch diese Reihe entdeckt. Hier bekommen auch Menschen ihren Raum. Noch vor ein paar Jahren wäre es für jemanden, der auf Griechisch singt, fast unmöglich gewesen, im Ausland aufzutreten. Ich habe mich für Colors entschieden, nachdem ich im Sommer 2021 gefragt wurde – es hat wunderbar gepasst. Die Serie hat ein tolles mediterranes Flair. Alles wird in einem Take aufgenommen, es gibt nur wenig Nachbearbeitung. Ich musste nur ein traditionelles Outfit finden, passend zu meiner Herkunft. Ich finde diesen Minimalismus großartig!

Hinter den Kulissen

Die zweite wichtige Form von Live-Aufnahmen abseits klassischer Konzert-Mitschnitte entsteht im privaten Raum. Das kann man z.B. sehr schön in Dokumentarfilmen wie „Get Back“ von den Beatles sehen, bei dem die eigentliche Kameraarbeit einfach gehalten ist und die Band und ihre Dynamik das Geschehen bestimmen. Oder auch – viel moderner natürlich – in den atemberaubenden Perspektiven, die in Ed Sheerans zutiefst persönlichem Dokumentarfilm „The Sum Of It All“ zu sehen sind.

Natürlich können die meisten von uns von solchen Einblicken nur träumen, aber eine Verbindung hinter die Kulissen kann auch für weniger bekannte Künstler*innen bisweilen erstaunliche Ergebnisse bringen.

Sean Treacy zum Beispiel begann in den Guerilla Studios in Dublin – hier proben Bands für ihre Tourneen – genau diese Proben zu filmen. Hier haben sich schon Bands wie Lankum, Percolator und Katie Kim auf ihre Shows vorbereitet. Er nannte seine Serie dieser Aufnahmen „The Practice Sessions“. Dabei entschied er sich für eine subtile Kameraführung, positionierte kleine Kameras nur wenige Zentimeter entfernt von den Instrumenten, um die einzigartige Perspektive des Proberaums zu dokumentieren.

Natürlich sind diese Videos gute Promotion für das Studio“, sagt Treacy. „Wir produzieren aber eher Friends-like. DIY. Es geht nicht um Geld. Hilft uns aber natürlich, unsere eigenen Alben zu finanzieren und zu produzieren. Es war und ist eine spontane Geschichte. Mit dem Erlös können wir auch Bands buchen.

Oder das Projekt „Community of Independents“ am Leben halten, ein„ Videokollektiv, das sich mit Musik beschäftigt. Die Dokumentation „A Joyful Slog“ beschäftigt sich mit DIY-Musik in Dublin.

Es gab auch klassische Live-Mitschnitte, aber wir hatten immer das Gefühl, dass das Publikum dabei an erster Stelle stand. Bei den Studio-Sessions mussten wir die Kameras nicht verstecken – und hatten jemanden im Team, der sich ganz bewusst um den Ton kümmerte. Wir haben das alles für Bands gemacht, die wir mochten. Das hat Spaß gemacht. Die Videos waren schnell gedreht. Wir haben einfach draufgehalten und die Bands beim Spielen beobachtet. Das Schwierigste an der Sache war der Zugang zu den Proberäumen. Nach einem oder zwei gescheiterten Versuchen klappte es dann – der Aufwand war es wert: den Alltag der Bands hautnah mitzuerleben, zu sehen, wo sie abhängen, schreiben und ihre Musik produzieren. Wir waren dort, wo sich die Musiker*innen am wohlsten fühlen. Natürlich kennen wir diese Bands schon sehr lange. Irland ist klein.

Wie das alles funktioniert? „Wir trinken ein paar Bier, machen uns locker und legen dann einfach los – aber man darf dabei den kommerziellen Aspekt nicht außer Acht lassen. Anfangs habe ich einfach ein paar Kameras aufgestellt und die Bands machen lassen. Das war preisgünstig und produzierte schöne Bilder und eine ziemlich einzigartige Ästhetik – minimalistisch, nah und unaufdringlich.

Das Endergebnis ist roh und einfach. Low-tech. Äshetisch jedoch – bildlich wie klanglich – einem direkten Live-Video haushoch überlegen.

Die Darstellung von Live-Musik in Form von schön anzusehendem Filmmaterial ist eindeutig eine Kunst, die über ein normales Live-Setup hinausgeht. Denn in einer Zeit, in der alle Smartphones haben und bislang nur wenige Künstler*innen deren Nutzung bei Live-Konzerten untersagen, sind Qualität und Zugänglichkeit wichtiger denn je.

Mit der richtigen Einstellung und dem passenden Setup ist es möglich, die Essenz von Künstler*innen und deren Musik herauszuarbeiten.